Wie viel Zeit bleibt mir? Lebenserwartung mit der Diagnose Multiple Sklerose.
Die Diagnose einer unheilbaren Krankheit ist belastend für Betroffene und ihre Familienangehörigen. Multiple Sklerose ist eine solche Krankheit, und von ihr sind etwa 250.000 Menschen allein in Deutschland betroffen. Trotz intensiver weltweiter Forschung sind weder die Ursachen der Erkrankung geklärt noch ist Heilung in Sicht. Eine der drängendsten Fragen der Betroffenen lautet daher selbstverständlich: Wie wirkt sich die Diagnose Multiple Sklerose auf die Lebenserwartung aus? Eine positive Botschaft vorab: Studien zeigen, dass sich die Lebenserwartung der Betroffenen immer weiter dem Durchschnitt annähert. Wir erläutern die wichtigsten Faktoren und zeigen, welchen Einfluss Betroffene nehmen können.
Der Blick in den Kalender und die bange Frage: Wir viele Jahre bleiben mir?
Lebenserwartung bei MS – Die Studienlage
Soviel vorweg: MS wird von Medizinern nicht als eine tödliche Krankheit bewertet, auch wenn mehrere Studien zeigen, dass die mittlere Lebenserwartung von MS-Erkrankten niedriger als die der Gesamtbevölkerung zu sein scheint. Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass sie sich zunehmend dem allgemeinen Durchschnitt annähert. Um solch eine Aussage wissenschaftlich akkurat treffen zu können, benötigt es vor allem Zeit für mehrjährige Untersuchungen sowie eine ausreichend große Datenmenge. Es liegen zwei Studien vor, die in den vergangenen Jahren beides in angemessenem Umfang nutzen konnten. Eine davon wertete über einen Zeitraum von 24 Jahren – beginnend im Jahr 1980 – die Daten von 5.797 MS-Erkrankten sowie einer Vergleichsgruppe von 28.807 Personen ohne MS aus. Alle Personen stammten aus der kanadischen Provinz Manitoba. Einen noch größeren zeitlichen Umfang betrachtete eine norwegische Studie, die von 1953 an Patientendaten von MS-Erkrankten auswertete. Insgesamt wurden so über einen Zeitraum von 60 Jahren die Daten von 1.388 Patienten verarbeitet. Ein schubförmiger Verlauf der MS lag bei 87 Prozent der Patienten vor, 13 Prozent litten an der primär progredienten Form der Erkrankung.
Lebenserwartung in Studien durchschnittlich sieben Jahre geringer
Obwohl bei Studien in unterschiedlichen Regionen durchgeführt wurden, kamen sie zu ähnlichen Ergebnissen: Mit etwa 77 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen mit schubförmig verlaufender MS ungefähr sieben Jahre unter dem Bevölkerungsdurchschnitt. Dagegen lag die Lebenserwartung bei der primär progredienten Form im Mittel sogar 14 Jahre unter dem Mittel. Bei der norwegischen Studie wurde in 56 Prozent der Fälle MS – oder direkt durch die Erkrankung bedingte Komplikationen – als Todesursache angegeben. Bei der kanadischen Studie lag dieser Wert mit 44 Prozent etwas niedriger. Bei den anderen Todesursachen gab es kaum Abweichungen zur übrigen Bevölkerung: Den größten Anteil machten Herz-Kreislauferkrankungen aus, gefolgt von Krebserkrankungen.
Die Lebenserwartung von MS-Patienten ist in einigen Studien geringer als beim Durchschnitt.
Ist auch Suizid ein Grund für höhere Sterblichkeit?
Die Diagnose einer chronischen Krankheit wie der Multiplen Sklerose kann bei einigen Betroffenen schwere Depressionen und sogar Suizidgedanken auslösen. Wir hatten in einem Artikel bereits auf den Zusammenhang zwischen der Diagnose und psychischen Erkrankungen hingewiesen (siehe Thielscher, C. et al. 2016). Studien zeigen zudem, dass die Suizidrate bei Erkrankten tatsächlich höher ist als im Durchschnitt der Bevölkerung. Eine größere schwedische Studie, die im Jahr 2016 veröffentlicht wurde, ergab eine knapp 80-prozentige Risikoerhöhung für einen vollendeten Suizid für MS-Betroffene (Brenner 2016). Im Verhältnis zur Vergleichsgruppe war das Risiko, einen Suizidversuch zu unternehmen, bei MS-Patienten mehr als doppelt so groß: Hochgerechnet kommen demnach auf 100.000 MS-Betroffene rund 117 Selbstmordversuche pro Jahr. In der Vergleichsgruppe waren es lediglich rund 51 Selbstmordversuche pro 100.000 und Jahr. Das Risiko eines tatsächlich vollendeten Suizids – also nicht nur des Versuchs – war bei MS-Erkrankten höher: In der Studie waren es hochgerechnet auf 100.000 Betroffene ca. 30 Personen gegenüber etwa 17 Personen in der Vergleichsgruppe. Zahlreiche mögliche Risikofaktoren wurden von der Studie allerdings nicht erhoben – so berücksichtigt sie weder Daten zur Behinderungsprogression, zu eingesetzten Medikamenten oder zur Häufigkeit und Schwere von Schüben noch zu psychiatrischen Diagnosen oder somatischen Begleiterkrankungen. Es ist also unklar, ob die MS oder Begleitfaktoren einen Suizid auslösen; eine Korrelation lässt sich allerdings statistisch belegen.
Hier finden Sie bei Bedarf Ansprechpartner
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Sofortige Hilfe erhält man rund um die Uhr bei der anonymen Telefonseelsorge unter der bundeseinheitlichen kostenlosen Rufnummer 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 und im Internet unter www.telefonseelsorge.de.
Depressionen sind bei Menschen mit der Diagnose MS nicht selten.
Wie aussagekräftig sind die Studien?
Wenden wir uns wieder der Frage zu, wie die MS-Erkrankung sich direkt auf die Lebenserwartung der Betroffenen auswirkt: Trotz der relativen Menge an Daten taugen die eingangs genannten Studien für den Einzelfall natürlich nicht als Prognoseinstrument. Sie bilden lediglich einen Mittelwert ab und das, ganz spitzfindig ausgedrückt, auch nur für das kanadische Manitoba oder die norwegische Provinz Hordaland. Auch muss bedacht werden, dass diese Studien nur bis 2005 bzw. 2012 reichen. Einige Medikamente, wie Beta-Interferone, werden erst seit Anfang der 90er Jahre verwendet, und mittlerweile werden sogar noch wirksamere Mittel, eingesetzt. Deren Auswirkung auf den Krankheitsverlauf kann daher noch gar nicht ausreichend in den Daten erfasst sein. Anders ausgedrückt: Die Ergebnisse spiegeln immer nur einen Zeitraum wider, doch die Lebenserwartung verändert sich im Laufe der Zeit.
Anstieg der Lebenserwartung in den vergangenen Jahren
Ein Ergebnis aus der norwegischen Studie kann in diesem Zusammenhang zu vorsichtigem Optimismus verleiten: Die Forscher untersuchten zusätzlich die Entwicklung der Übersterblichkeit in Abhängigkeit zu dem Zeitpunkt der MS-Diagnose. Für die Übersterblichkeit bedeutet ein Wert größer als 1 eine höhere Sterblichkeit als erwartet, kleiner 1 kennzeichnet entsprechend eine niedrigere Sterblichkeit. Patienten, deren MS in den Jahren zwischen 1953 und 1974 festgestellt wurde, hatten eine Übersterblichkeitsrate von 3,1. Bei einem Krankheitsbeginn zwischen 1975 und 1996 lag der Wert bei 2,6 und bei einer Diagnose ab 1997 bis 2012 sank die Übersterblichkeit sogar auf 0,7. Ein Wert, der überrascht, da er sogar eine Untersterblichkeit bedeuten würde. Allerdings fehlen bei dieser Auswertung schlicht die Daten zur tatsächlichen Lebenserwartung, zum einen Aufgrund des Studienendes und zum anderen, da viele der Betroffenen vermutlich auch jetzt noch leben. Dennoch ist folgendes Fazit zulässig: Die Lebenserwartung der Betroffenen gleicht sich weiter dem Durchschnitt an. Allerdings geht aus der Studie nicht klar hervor, ob dies aufgrund verbesserter Behandlungsmethoden der MS geschieht, oder ob hier andere Faktoren eine Rolle spielen.
In der hier beschriebenen Studie nimmt die Übersterblichkeit von MS-Erkrankten seit Jahren kontinuierlich ab.
Verlaufsformen der MS als Faktor
Werfen wir einen Blick auf die Verlaufsformen: Wir unterscheiden zwischen der schubförmigen und progredienten, also der chronisch voranschreitenden, Form. Rund 80 Prozent der Erkrankungen beginnen als schubförmige Variante. Als Schub wird das plötzliche Auftreten eines Krankheitssymptoms für mindestens 24 Stunden bezeichnet. Schübe sind außerdem dadurch gekennzeichnet, dass sich die Beschwerden teilweise oder sogar vollständig zurückbilden. Bei etwa der Hälfte der Fälle wandelt sich die schubförmige MS in chronisch voranschreitende Form. Man spricht dann von einer sekundär progredienten MS. Beschwerden treten dann nicht mehr schubförmig auf, sondern fortwährend – und sie verschlechtern sich zudem. Bei bis zu 20 Prozent aller MS Erkrankungen ist dies von Beginn an der Fall. Dann spricht man von einer primär progredienten MS. Die Behandlung der MS zielt darauf ab, mit unterschiedlichen Medikamenten die auf die Häufigkeit und Schwere der Schübe einzuwirken, sowie das Voranschreiten der Krankheit zu vermindern. Wie eingangs beschrieben, ist eine im Durchschnitt geringere Lebenserwartung vor allem bei den progressiven Verlaufsformen zu verzeichnen, wobei die Geschwindigkeit und die mögliche Beschleunigung der Progression bei den Betroffenen sehr unterschiedlich sein können.
Die Verlaufsform der MS-Erkrankung hat einen Einfluss auf die Lebenserwartung.
Fokus auf sekundäre Erkrankungen in der Therapie
Neben der Verlaufsform der MS Erkrankung sind Komplikationen durch sekundär Erkrankungen, die häufig durch die MS ausgelöst werden, der wichtigste Einflussfaktor auf die Lebenserwartung. Dazu zählen vor allem Atemwegserkrankungen und Harnwegsinfektionen. Infektionskrankheiten wirken sich bei MS-Patientinnen und -Patienten häufig schwerer aus, da die Immunabwehr durch die MS-Therapie geschwächt ist. In einigen seltenen Fällen können diese Infektionen einen schweren oder sogar tödlichen Verlauf nehmen, sodass sie ebenfalls in die Statistik einfließen. Und selbst wenn eine Infektion selbst gut therapiert werden kann, können unter Umständen Folgeschäden auftreten, die einen Einfluss auf die Lebenserwartung haben können. Sekundäre Erkrankungen machen also einen bedeutenden Anteil an der Übersterblichkeit von MS-Patientinnen und -Patienten aus, können durch moderne Behandlungsmethoden aber auch immer besser therapiert werden.
Fatigue und ein aktiver Lebenswandel als Einflussfaktor
Nicht zu unterschätzen sind außerdem die Auswirkungen der Fatigue, über die Sie in diesem Artikel etwas mehr erfahren können. Dabei handelt es sich um einen Zustand intensiver Erschöpfung und Antriebslosigkeit, der zu den häufigsten Begleiterscheinungen einer MS-Erkrankung gehört. Die Fatigue behindert den notwendigen Bewegungsdrang; Betroffene ziehen sich häufig zurück, da sie sich aufgrund der leichten Erschöpfbarkeit an vielen Aktivitäten nicht beteiligen können. Gerade für Menschen mit MS ist das fatal: Es zeigt sich, dass sie besonders von einem aktiven Lebensstil und einer guten allgemeinen Ausdauer profitieren können. Da durch MS häufig die Mobilität beeinträchtigt wird, ist es umso wichtiger, dem mit ausreichend viel Bewegung entgegenzuwirken und das Herz-Kreislaufsystem zu stärken – natürlich immer im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und ohne sich zu erschöpfen.
Fatigue kann die für MS-Patienten so wichtige Aktivität einschränken.
Gesunde Ernährung für ein längeres Leben?
Eine gesunde und ausgewogene Ernährung fördert nicht nur das Wohlbefinden: Während tierische Fette vermieden werden sollten, da sie im Verdacht stehen entzündungsfördernd zu wirken, können andere Nahrungsmittel sogar einen Beitrag zum Erhalt einer normalen Nervenfunktion leisten. Welche Nahrungsmittel bei MS besonders geeignet sind, haben wir in einem Beitrag für Sie zusammengestellt. Welche Bedeutung die Ernährung für die Lebenserwartung des Einzelnen hat, lässt sich bei Menschen mit einer MS-Diagnose ebenso wenig mit Sicherheit feststellen wie bei Menschen ohne diese Erkrankung. Dass eine ausgewogene Ernährung zuträglich für die Gesundheit ist, ist allerdings unstrittig.
Was bedeutet dies nun für meine Lebenserwartung?
Irgendwie frustrierend, aber vielleicht auch ganz gut so: Zur Lebenserwartung einzelner Personen lässt sich keine seriöse Prognose abgeben. Zu unterschiedlich sind die individuellen Voraussetzungen und Lebensumstände: Psychische Belastungen, Schubverläufe, Behinderungsprogression, körperliche Aktivität, Ernährung, Tabak- und Alkoholkonsum – einige Faktoren liegen im Einflussbereich der Betroffenen, andere lassen sich nicht oder kaum beeinflussen. Selbst ausgewiesene Experten können keine Vorhersage zum Multiple Sklerose-Verlauf und zur Lebenserwartung bei einzelnen Patientinnen und Patienten treffen. Die vielleicht wichtigste Botschaft ist aber: Statistisch gesehen gleicht sich die Lebenserwartung der Betroffenen in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr dem Durchschnitt an. Der Grund: Durch verbesserte Therapien lassen sich vor allem jene Begleiterkrankungen immer zielgerichteter behandeln, die ein Hauptauslöser für die durchschnittlich kürzere Lebenserwartung von Betroffenen sind. Ein bewusster Lebenswandel und eine gesunde Ernährung sowie ein enges medizinisches Monitoring, bei dem mögliche parallel auftretende Erkrankungen sehr früh entdeckt werden, können im Einzelfall sogar einen positiven Beitrag zur Lebenserwartung leisten. Soll heißen: Mit der MS leben Sie unter Umständen vielleicht sogar länger, als wenn Sie die selbstverständlich beängstigende Diagnose nie erhalten hätten. Unabhängig davon gilt für Menschen mit MS dasselbe wie für alle jene ohne eine solche Diagnose: Ein bewusster und aktiver Lebenswandel und eine positive Einstellung machen das Leben im Durchschnitt nicht nur länger – sie machen das Leben definitiv schöner.
Externe Quellen
- Survival and cause of death in multiple sclerosis: a 60-year longitudinal population study (Lunde HMB, Assmus J, Myhr K, et al, 2017 – Englische Quelle)
- Lebenserwartung mit Multipler Sklerose (Amsel.de, 2011)
- Effect of comorbidity on mortality in multiple sclerosis (Ruth Ann Marrie et al, 2015 – Englische Quelle)
- The risk of developing depression when suffering from neurological diseases (Thielscher, C. et al, 2016 – Englische Quelle)
- Multiple sclerosis and risk of attempted and completed suicide – a cohort study (Brenner et al, 2016 – Englische Quelle)